Würmer im Arztgespräch: Eine Betrachtung aus der Perspektive der Verhaltensökonomik

Es gibt Gespräche zwischen Arzt und Patient, da ist der Wurm drin. Bei manchen ist das ganz offensichtlich, andere mögen zunächst wie ein schöner, knackig süßer Apfel erscheinen – aber wehe, wenn man reinbeißt! Würmer im Arztgespräch sind nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Aktuellen Schätzungen des Bundesministeriums für Gesundheit zufolge kostet die mangelnde Verständigung zwischen Arzt und Patient die Versicherten jährlich bis zu 15 Milliarden Euro. Die meisten Ansätze zur Lösung des Problems kommen aus der Ecke der klassischen Kommunikationstheorie. Dass das alleine nicht ausreicht, zeigt die tägliche Praxis. In diesem Betrag beleuchten wir das Problem und mögliche Lösungsansätze aus der Perspektive der Verhaltensökonomik.

Die beste Kommunikation hilft nichts, wenn man im falschen Film ist

Die klassische Kommunikationstheorie beschäftigt sich mit der Frage, wie ein Sender seine Botschaft gestalten muss, damit der Empfänger sie so versteht, wie sie vom Sender gemeint ist. Wer das nicht als Problem erkennt bzw. meint, die Lösung des Problems sei doch sehr einfach, ist Teil des Problems – ohne es zu merken. So versuchen die einschlägigen Kommunikationstrainer nicht nur das entsprechende Problembewusstsein zu wecken, sondern sie entwickeln zusammen mit den Trainierenden idealtypische Dialoge bezogen auf konkrete Kommunikationsziele. Das ist hilfreich und wichtig. Aber es reicht in vielen Fällen nicht aus.

Die Erklärung dafür bietet die Verhaltensökonomik. Als Disziplin der Wirtschaftswissenschaften scheint sie auf den ersten Blick wenig mit dem Thema Kommunikation zu tun zu haben. Die Verhaltensökonomik untersucht die Mechanismen und die Ursachen rationalen und irrationalen Verhaltens. Gemeinhin gehen die Wirtschaftswissenschaften von dem Modell des Homo oeconomicus aus, der sein Ziel der Nutzenmaximierung durch rationales Verhalten erreichen will. Auch Patienten sind Nutzenmaximierer. Sie wollen, um es pauschal auszudrücken, möglichst schnell wieder gesund werden und gleichzeitig möglichst wenig dafür tun. Würde sich ein Patient aber wie ein Homo oeconomicus verhalten, würde er rationale Entscheidungen treffen, um sein Ziel mit dem geringstmöglichen Input zu erreichen. In der Praxis treffen Patienten hingegen oft keine rationalen Entscheidungen. Die beiden wichtigsten Gründe für irrationale Entscheidungen sind Informationsdefizite und Heuristiken beim Verarbeiten von Informationen.

Heuristiken in der Arztpraxis

Die Beziehung des Arztes zu seinem Patienten ist vom Prinzip her die eines Beraters, der seinen Klienten zu der für seine individuelle Situation bestmöglichen Entscheidung bringt bzw. ihn dazu befähigt, diese Entscheidung auch umzusetzen. Das Ziel der Kommunikation zwischen Arzt und Patient ist letztendlich die richtige Entscheidung: Schluss mit dem Rauchen, gesunde Ernährung, mehr Bewegung, regelmäßige Einnahme der Medikamente etc. Dass die Kommunikation zwischen Arzt und Patient jedoch nur selten von Erfolg gekrönt ist, ist kein Geheimnis. Trotz aller Aufklärung verstehen Patienten oft nur wenig und treffen am laufenden Band irrationale Entscheidungen. Um dieses Problem zu erfassen, lohnt sich ein Blick auf die bekannten Heuristiken und deren Abbildung auf die Arztpraxis. Das ist neu.

Da dies allerdings ein sehr weites Feld ist, beschränken wir uns in diesem Beitrag auf die Beleuchtung der Heuristiken im Zusammenhang mit dem Thema »Adhärenz«. Zunächst ist aber die Frage zu beantworten, was eigentlich Heuristiken sind. Daniel Kahneman, Nobelpreisträger für Wirtschaft und einer der bedeutendsten Forscher auf dem Gebiet der Verhaltensökonomik erklärt in seinem Bestseller »Schnelles Denken, langsames Denken«, dass wir in zwei unterschiedlichen Modi denken. Unser Alltagsmodus ist das schnelle Denken. Dabei greift unser Gehirn auf einmal gelernte Verhaltens- und Entscheidungsmuster zurück, auch wenn sie auf die aktuelle Situation nicht ganz genau passen. Diese Muster bezeichnet die Verhaltensökonomie als Heuristiken. Es handelt sich im Grunde um Daumenregeln, die hinreichend genau sind, um uns durch den Tag zu navigieren. Der andere Modus ist das langsame Denken. Das langsame Denken ist algorithmisches Denken, Beleuchten der vorhandenen Fakten möglichst ohne emotionale Artefakte, ungefiltertes Definieren von Optionen, »mathematisches« Bewerten der Optionen und kritisches Abwägen des Für und Wider, In diesen Modus lässt sich unser Gehirn allerdings nur widerwillig umschalten – es versucht, mit Heuristiken durch den Tag zu kommen, was normalerweise auch klappt, solange die zu bewältigenden Situationen nicht zu komplex sind. Heuristiken werden allerdings dann zu einer Entscheidungsfalle, wenn wir sie bei komplexen Entscheidungen anwenden.

Die Affektheuristik

Ein typisches Beispiel dafür ist die sogenannte »Affektheuristik«. Sie beschreibt das Phänomen, dass wir dazu neigen, die Risiken einer Entscheidung umso geringer einzuschätzen (und den Nutzen umso höher), je sympathischer uns eine Idee ist. Damit lässt sich erklären, warum wir uns Autos kaufen, die wir uns eigentlich nicht leisten können, oder Dinge tun, die wir später bereuen. Die Affektheuristik wirkt natürlich auch umgekehrt: Je unsympathischer einem Patienten ein Arzneimittel ist, umso höher bewertet er die Risiken und umso geringer den Nutzen.

Bezogen auf das Thema Adhärenz spielt die Affektheuristik also häufig eine Rolle. Dies gilt auch, wenn Patienten trotz Diabetes oder Hypertonie ihren Lebensstil nicht ändern. Der Kuchen oder der Hamburger sind uns so sympathisch, dass wir die Kosten, die jede »Sünde« von unserem  Gesundheitskonto abbucht, schlichtweg ignorieren.

Die beste Kommunikationstechnik hilft nicht, wenn der Empfänger der Botschaft im »falschen Film« ist, also einer Heuristik unterliegt. Denn Heuristiken spielen nicht nur bei Entscheidungen eine Rolle, sie sind im Gespräch zwischen Arzt und Patient allgegenwärtig. Und diesem Phänomen unterliegen keinesfalls nur Patienten, sondern auch Ärzte. So können beide wunderbar aneinander vorbeireden. Ein Beispiel dafür ist die »Optimistische Verzerrung«: Der Arzt glaubt, weil der Patient keine Fragen mehr stellt, er habe ihn verstanden. Der wahre Grund kann aber ein ganz anderer sein: Der Patient unterliegt dem sogenannten »Priming-Effekt«. Er hat vielleicht erlebt, dass ein Arzt genervt auf seine »dummen« oder »unbequemen« Fragen reagiert hat, und irgendwie erinnert ihn der Arzt, vor dem er nun sitzt, an jenen Arzt von damals. Wenn er nun die Situation von damals auf die aktuelle Situation überträgt und auf Fragen verzichtet, obwohl der Arzt jetzt ein anderer ist, unterliegt er dem Priming-Effekt.

Um den Rahmen dieses Blogbeitrages nicht zu sprengen, wollen wir an dieser Stelle zum Ende kommen und auf das Buch »Würmer im Arztgespräch« unseres Kollegen Peter Jungblut verweisen, das demnächst erscheint. Hier findet man die Analyse zahlreicher Situationen im Arzt-Patient-Dialog und natürlich Lösungsansätze. Als kleinen Vorgeschmack geben wir Ihnen einige konkrete Tipps aus dem Buch.  

Tipps

Ärzte erleben tagtäglich den irrationalen Umgang von Patienten mit Arzneimitteln und suchen händeringend nach Instrumenten, welche die Bereitschaft der Patienten zur Medikamenteneinnahme erhöhen. So wie Heuristiken zu Aversionen gegen Arzneimittel führen, können sie aber auch dazu beitragen, Widerstände abzubauen – vorausgesetzt, der Arzt wendet sie gezielt an. Die folgende Tabelle fasst die wichtigsten Heuristiken im Zusammenhang mit Arzneimitteln zusammen. Die linke Spalte enthält Heuristiken, die Patienten eher von Arzneimitteln fernhalten, die rechte Spalte zeigt Heuristiken, die Ärzte gezielt anwenden können, um die Angst ihrer Patienten vor Arzneimitteln zu reduzieren.

Adhärenzreduzierende Heuristiken

Adhärenzsteigernde Heuristiken

Optimistische Verzerrung:
Je sympathischer einem Patienten ein Arzt oder ein Arzneimittel ist, umso höher bewertet er den Nutzen und umso unkritischer bewertet er die Risiken. Diese Verzerrung funktioniert natürlich auch in umgekehrter Richtung. Je unsympathischer einem Patienten ein Arzneimittel ist, umso höher bewertet er die Risiken und umso geringer den Nutzen.

Verfügbarkeitsheuristik:
Je mehr negative Beispiele einem Patienten zu einem Arzneimittel einfallen, umso eher neigt er dazu, sie für allgemeingültig zu halten. Patientenforen sind in der Regel Gift für die Adhärenz.

Mere-Exposure-Effekt:
Der Mere-Exposure-Effekt beschreibt die Tatsache, dass alleine die wiederholte Wahrnehmung einer anfangs neutralen Sache ihre positive Bewertung zur Folge hat. Auch dieser Effekt funktioniert in beiden Richtungen. Falsche Behauptungen, oft genug wiederholt, werden schließlich geglaubt.

Die Ignoranz der Grundmenge:
Negative Beispiele können auch deshalb eine starke Wucht haben, weil wir dazu neigen, die Häufigkeit auszublenden. So wird das Risiko schwerer, aber seltener Nebenwirkungen systematisch überschätzt.

Verlustaversion:
Man kann Nebenwirkungen durchaus als Verlust, Wirkungen als Gewinn bewerten. Die Verlustaversion besagt, dass wir lieber Verluste vermeiden als Gewinne zu machen, selbst wenn der potenzielle Gewinn erheblich höher ist als der drohende Verlust.

Gültigkeitsillusion:
Je plausibler uns eine Geschichte erscheint, umso leichter glauben wir sie und umso weniger interessiert uns die Quelle. Zum Beispiel bilden sich Patienten, die Internetforen nutzen, mitunter auch deshalb eine negative Meinung über Arzneimittel, weil sie die Quelle und deren Motivation zur Veröffentlichung der Botschaft nicht hinterfragen. Ärzte könnten die Gültigkeitsillusion aber auch einsetzen, um dem Patienten den Nutzen eines Arzneimittels deutlich zu machen. Leider sind die meisten Ärzte darauf nicht geschult, und die meisten Informationsmaterialien nutzen nicht die Kraft der Gültigkeitsillusion.

Glaubwürdigkeitsheuristik:
In die gleiche Richtung wirkt die Glaubwürdigkeitsheuristik. Wir neigen dazu, die Glaubwürdigkeit einer Aussage nach ihrem Inhalt, nicht nach der Qualität der Quelle zu beurteilen.

Framing-Effekt:
Wir neigen dazu, Ereignisse rasterartig zu bewerten und nicht dynamisch. So wird ein Medikament, das als zu 50 % wirksam bezeichnet wird von einem Patienten eher akzeptiert als ein Medikament, das als zu50 % wirkungslos bezeichnet wird.

Simulationsheuristik:
Zu erwartende Effekte werden als wahrscheinlicher bewertet, wenn man sie sich gut vorstellen kann. Daraus folgt, dass Ärzte sich weniger auf die Wirkungsweise eines Arzneimittels fokussieren, sondern stattdessen die Effekte stärker herausstellen sollten, im Idealfall illustrativ.

Tabelle: Heuristiken im Arzt-Patienten-Gespräch

Fazit

Ärzte sollten die Fähigkeit haben, ihre eigenen Heuristiken und die ihrer Patienten zu erkennen und Pharmaunternehmen sollten bei der Entwicklung von Patientenmaterialien das Thema Heuristiken viel stärker beachten.

co.patient berät Sie gerne zum Thema Heuristiken.

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